Ausschnitt aus dem Buch „Yijing – Die Entdeckung des Ursprünglichen“
Hexagramm 15: Des Großen Kraft, Seite 155 bis 156
Das Hexagramm Des Großen Kraft verweist auf einen starken und machtvollen Menschen, der sich vollständig mit seiner Rolle auf der Weltenbühne identifiziert. Er hat sich inzwischen ein Lebenswerk aufgebaut, sein Einfluss ist mächtig und sein Wirkradius groß. In dieser Zeitphase sind der Eigenwille und das Durchsetzungsvermögen stark ausgeprägt.
Die kleine Quelle ist inzwischen zu einem großen mächtigen Fluss geworden, mit einer breiten Wasserfläche und einer klaren Fließrichtung.
Allein durch seine Anwesenheit kann dieser Mensch große Autorität ausstrahlen. Er übt eine starke Anziehungskraft aus und je mehr Energie ihm durch Aufmerksamkeit zufließt, desto machtvoller wird er. Befindet er sich in einer wichtigen öffentlichen Position mit Entscheidungsbefugnis, so untermalt dieses Amt seine Präsenz und Wichtigkeit noch zusätzlich.
Er hat hart und lange für diese Position gearbeitet und fährt nun die Ernte dafür ein. Seine Mitmenschen würdigen sein Lebenswerk und dienen ihm zu. Was so großartig geworden ist, ist aber genau das, was diese Persönlichkeit auch in Gefahr bringen kann. Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Vier nachfolgende Yang-Linien in der Struktur des Hexagramms spiegeln seine große Macht wider. Doch genau diese macht ihn selbst nun auch unbeweglich und angreifbar. Wie ein kraftvoller Hirsch mit einem prächtigen Geweih muss jeder Schritt mit Bedacht gesetzt werden. Wer so ein gewichtiges Ego mit sich herumträgt, kann nicht mehr flexibel sein. Zu schwer trägt sein Amt, zu schwer trägt sein Lebenswerk, seine Ich-Struktur.
Wenn etwas so in Größe und Höhe ist, dann zeigt dies zumeist auch ein Ende an weiterer Entfaltungsmöglichkeit und einen Umkehrpunkt an. Das Hexagramm Des Großen Kraft markiert ebenso das Ende des äußeren Milieus des Donners in Form von Holz, dessen Wirkkraft nun abnimmt. Doch in der Natur ist Stillstand nicht vorgesehen. Alles ist in Bewegung. Panta rhei – alles fließt, wusste schon Heraklit.
So ist das auch mit der Ich-Struktur eines Menschen. Da das Ich-Bewusstsein jedoch gerade an Grenzen stößt, weiß es nicht, wohin es sich weiter entfalten soll. Solch eine mächtige Position ermöglicht nicht so leicht den Rückzug. Vieles ist auf dieser Figur aufgebaut. Sie ist zu gewichtig, um sie einfach zu ersetzen. Zumindest glaubt diese Persönlichkeit das selbst und auch viele in ihrem nahen Umfeld. Auch die gesellschaftlichen Strukturen lassen dies oftmals nicht so einfach zu, ohne dass danach Unordnung entstehen könnte.
Da Persönlichkeiten mit solch einer starken Ich-Struktur den Zeitpunkt des Rückzugs nur selten rechtzeitig vorbereiten, beginnt das Ich-Bewusstsein sich aufzublähen. Wie eine Krebszelle glaubt es, sich ungehemmt ausbreiten und unsterblich machen zu können.
Je länger diese Lage anhält, desto größer ist die Gefahr, dass sich diese Person in eine narzisstische Persönlichkeit verwandelt. Von der eigenen Macht berauscht, erlaubt dieser Mensch keinen Widerspruch und versucht, sich selbst immer mehr zu einer Reliquie zu machen. Um dies zu erreichen, wird ihm nach und nach jedes Mittel recht. Die Bereitschaft steigt, Verhaltensregeln, die das friedliche Miteinander ermöglichen, aufzugeben und Gesetze nach eigenem Vorteil abzuändern. Den Kontakt zur Basis hat dieses Individuum längst verloren, wobei ihm genau dieser Kontakt von großem Nutzen sein könnte. An Transformation verschwendet das mächtige Ich-Bewusstsein keinen Gedanken, obwohl genau das die Lösung wäre.
Die Überbetonung des Hexagramms Des Großen Kraft ist die Tragik unserer Zeit. Es könnte aber auch ein Hinweis darauf sein, dass diese Zeitphase in unserer kollektiven menschlichen Entwicklung gerade ihre Blütezeit und hoffentlich bald ihren Umkehrpunkt erlebt.
Weiteres dazu finden Sie im Buch in den Texten zu den einzelnen Hexagramm-Linien.
